Ein Besuch bei Franziska Becker

Von TITUS BILLINGS


Die kurze Fahrt vom Flughafen in diese altertümliche rheinische Stadt war flott und angenehm. Problematisch wurde es erst, als ich im Stadtzentrum ankam. Die ganze Stadt wurde gerade für eine neue U-Bahn-Strecke aufgerissen, sogar die Stufen an der mächtigen Kathedrale.


Über Schutt und Baustellen stolpernd fand ich endlich die Strassenbahn, die ich nehmen sollte. Die Strassenbahnschienen wanden sich durch weitere Baugruben, Dreckhaufen, irren Verkehr und grimmige Fussgänger, deren Gesichtsausdruck „hab‘ die Schnauze voll!“ zu schreien schienen. Nach etwa 20 Minuten kam ich an meiner Haltestelle an (auch eine Baustelle) und ich ging zu der Adresse, die man mir gegeben hatte.


Das Haus war einfach zu finden, allerdings musste ich mich durch eine Ansammlung aggressiv bettelnder Obdachloser zwängen, die, wie ich später erfuhr, morgens um 6 Uhr aus dem Obdachlosenheim geworfen werden und dann den Tag damit verbringen, der Nachbarschaft das Leben zu versauern.


Fünf Etagen zu Fuss zu erklimmen ist etwas, das es in den Staaten eigentlich seit meiner Geburt nicht mehr gibt; deshalb war ich wahrscheinlich auch so erschöpft, als ich in der obersten Etage an einer Eichentür und einem emaillierten Namensschild mit der Aufschrift „Franziska Becker“ angelangt war.


Frau Becker begrüsste mich, bestand darauf, dass wir uns mit Vornamen anredeten und bat mich hereinzukommen. Hätten nicht überall Kleidungsstücke herumgelegen, und wäre da nicht der märchenhafte Duft eines Kuchens im Ofen gewesen, ich hätte angenommen, dies sei lediglich ihr Atelier gewesen. Nein, wurde mir versichert, die Künstlerin wohne hier. Sie wohne auch anderswo, aber davon erfuhr ich erst später.


Einige regelmässige Leser dieser Kolummne werden sich an meine Rezension von 7 Reece Mews, Percy Odgens Photoessay über Francis Bacons Atelier in South Kensington erinnern. Ausser einem heimeligen Touch und der gemütlichen Küche spielte dieser Ort mehr oder weniger in der gleichen Liga. Leinwände, einige noch leer, andere bereits fertig, einige winzig, andere riesig standen überall, in jeder Ecke und an jeder Wand. Ein grosser Laptop bezog seinen Strom und den Zugang zum Internet aus einer furchteinflössenden Portion Kabelsalat, das marathon-lange Kabel eines museumsreifen schwarzen Telefons wand sich im Zickzack quer durch das Atelier, um diesen Hindernisparcours noch zu verstärken.


Am Arbeitstisch konkurrierten Vitamin-Fläschchen, Feuchtigkeitscremes, Augencreme-Tuben, eine Puderdose und ein Trupp Lippenstifte um Platz mit Ölfarben, Acrylfarben, Kreiden, Pinseln, Schwämmchen und einer wirklich beeindruckenden Sammlung Buntstifte. Vier Hochleistungs-Lampen waren an den Tisch geschraubt. Nur eine davon funktionierte, quasi.


TEE UND SCHIMMELNDE WALNÜSSE


Franziskas Wohnung befand sich direkt unter dem Dach, dort wo früher die Bediensteten lebten. Die niedrige Decke und die Dachschrägen verringerten die Quadratmeterzahl beträchtlich, so dass Platz zwischen Bücherregalen und Bildern Mangelware war. Neben Franziskas eigenen Arbeiten sah ich Bilder vom Münchener Cartoonisten Papan. Ausserdem viele pharaonische Museums-Repliken, ein paar alte Gemälde und ein kleines, frühes Pechstein-Landschaftsbild. Aber die Bücher waren in der Überzahl, in den Regalen standen sie in Dreifach-Reihen. Die Tische bogen sich unter ihrem Gewicht. Stapelweise lagen sie auf dem unebenen Eichenbohlen-Boden. Ein paar der Titel konnte ich entziffern: Hogarth to Cruickshank: Social Change in Graphic Satire; Saul Steinberg: All in Line; Meret Oppenheim: Leben und Werk; Goya: Die Skizzenbücher. Ausserdem dutzende Bücher über Symbole, Alphabete, Zeichen und das alte Ägypten, eins davon Tierwelt im alten Ägypten. Ich konnte nicht widerstehen, es unhöflicherweise kurz durchzublättern. Es lagen auch massenweise Romane herum. Ich erkannte unter ihnen Toni Morrison, Love, Herta Müller, Der Fuchs war immer schon der Jäger , Dezsö Kostolány, Ein Held usnserer Zeit.


Dort, wo die Gäste empfangen werden, steht ein Regal, auf dem mindestens ein Dutzend Silber-, Zinn- und Kupferteekannen in verschiedenen Zuständen zwischen reparaturbedürftig und rekonvalenzent versammelt sind. Ich habe nicht gezählt, aber ich würde sagen, Franziska trank in wenigen Stunden mindestens ein halbes Dutzend übergrosse Tassen dampfenden, schwarzen Tee.


Franziska könnte man als junoesque beschreiben. Sie ist über fünfzig, sieht aber jünger aus. Lange rotbraune Locken umrahmen ein Lächeln, das den ganzen Raum wärmt. An dem Tag als wir uns trafen, trug sie ein elegant geschnittenes schwarzes Kleid von Christa de Carouge. Sie verehrt auch Yamamoto und Dries van Noten. Ich erfuhr, dass sie in diesen Kleidern auch malt, kocht und putzt. Deshalb befanden sich auch Streifen getrockneter Farbe, Tintenflecken und Spuren von etwas, das einmal eine Spinat-Quiche gewesen sein könnte, auf ihrem Kleid. Sie sagte: „Kleidung sollte gut aussehen, sich gut anfühlen und getragen werden. Ich mag es nicht, schöne Klamotten im Schrank zu verstecken.“ Die Gefahr bestand auch gar nicht, in ihrer Wohnung gab es gar keine Kleiderschränke, dafür sah ich auf einem Biedermeier Sekretär, der aussah, als sei er auf dem Weg zum Restaurator, einen Kleiderhaufen mit verschiedenen Designer-Labels. Aus einer der kleinen Schubladen quollen Bündel obsoleter, verknitterter D-Mark-, Francs-, Lire- und Gulden-Scheine, die nur noch von antiquarischem Wert waren. In einer anderen Schublade entdeckte ich ein (leeres) Vogelnest.


Unter den Flohmarkt-Möbeln, die die Wohnung füllten, befanden sich auch ein paar auffallende Kostbarkeiten. Franziska bemerkte meinen Blick auf die Preciosen und erklärte mir ihre jeweilige Herkunft in der etwas luftigen aber wohlinformierten Art eines Antiquitätenhändlers. Ich erfuhr, dass die geschnitzte Eichentruhe in der Ecke einmal vor dreihundert Jahren dem Landgrafen von Hessen gehörte. Die rundliche Kommode, auf der zur Zeit ein Wäschekorb stand, war Louis XV. Das Sofa, auf dem ich sass, oder genauer, das ich mit einem Korb schimmelnder Walnüsse teilte, war Empire. Familienerbe? Wohl kaum. Wie Millionen andere, überlebten Franziskas Eltern den zweite Weltkrieg hungernd, mittellos und niedergeschmettert. Alles was sie an Werten besassen haben sie erst nach dem Krieg erworben, etliches als Geschenke von dankbaren Patienten, die Franziskas Vater in den ersten Nachkriegsjahren kostenlos behandelte.


Beide Eltern sind mittlerweile tot, ihre Mutter starb erst kürzlich. Sie sagt, sie verdankt ihren Eltern sehr viel. Ihre Mutter besass eine legendäre und lebhafte Fantasie, Franziska glaubt von ihr das satirische Temperament geerbt zu haben. Ihr Vater war eine Art Hüter der Klasssik. Nach langen Arbeitstagen in seiner Praxis entspannte er sich bei der Lektüre der klassischen griechischen und römischen Literatur. Ägypten faszinierte ihn. Ihrem Vater verdankt sie ihre Liebe zur Antike. Sie sagt sie habe wunderbare Kindheitserinnerungen, aber die trostlose Atmosphäre ihrer zerbombten Heimatstadt Mannheim wurde durch die schlimmen Kriegserinnerungen ihrer Eltern noch verstärkt.


SICHERHEITSNADELN UNTER RUINEN


„Paradoxerweise“, sagt sie, während sie ein paar Vorkriegsfotos ihrer Familie betrachtet, „war Mannheims verödeter Zustand für mich eher inspirierend. Mein Spielplatz waren surreale Ruinen, Bombenkrater, die zerstörte Skyline einer vernichteten Stadt. Im Kontrast dazu standen die Besatzungstruppen, amerikanische GIs, Schwarze und Weisse, wohlgenährt, gut angezogen, selbstsicher, relaxed und freundlich. Was für ein Unterschied zu den heruntergekommenen, versehrten Veteranen, die humpelnd um Brotkrumen bettelten! Und dann natürlich Legionen von Flüchtlingen, den sogenannten Vertriebenen; Polen, Juden, Russen, die aus Arbeitslagern und Konzentrationslagern befreit wurden, viele von ihnen nach wie vor obdachlos und verzweifelt. Goya hätte sich wie zuhause gefühlt. Ich war zufälliger Zeuge von Szenen, die meine Vorstellungskraft und Sensibilität stärkten. Als Kind war ich in der glücklichen Lage, dass meine Eltern keinen Fernseher besassen. Und alle Kinos waren zerstört. Teile meiner visuellen Begabung verdanke ich diesen Entbehrungen.“


Franziska sagte, dass die Nachkriegszeit Gefühle wie Schuld, Demut und Vorsicht förderte, aber auch, nach den entbehrungsreichen Jahren, ein gewisses Improvisationstalent. „Schon als junges Mädchen entdeckte ich, was die grösste Erfindung der Menschheit war“, sagte sie in kategorischem Ton: „Die Sicherheitsnadel kann man für tausend Dinge benutzen, ich habe immer ein paar griffbereit.“ Das war stark untertrieben. Ihre Wohnung war ein Sicherheitsnadellager. Fast hatte ich das Gefühl, dass die ganze Wohnung von diesen Dingern zusammengehalten wurde. Franziska trägt auch immer eine aufffallende, ausgeklügelte Sicherheitsnadel am Revers ihrer Lieblings-Comme des Garçons-Jacke.


Das hört sich an, als ob Sie von Kriegsfolgen und Elend umgeben gewesen waren, aber haben Sie jemals gesehen, wie jemand getötet wurde? „Ja, bei einem Eisenbahnunfall, als ich ungefähr zehn war. Ich war auf einem Schulausflug. Wie in einer dieser Episoden, die man sonst nur im Kino sieht, fuhr unser Zug frontal auf einen anderen auf. Wir konnten uns unverletzt aus dem hinteren Zugteil befreien, aber die Unglücklichen, die weiter vorne sassen, wurden schrecklich verstümmelt. Diese Bilder werde ich nie vergessen.“


Waren die sechziger Jahre eine zentrale Phase für Sie, voller Eskapaden und revolutionärem Eifer? Anscheinend nicht. Franziska erzählte mir, dass sie viel von der Ausgelassenheit verpasste: „Zu früh geheiratet und zu spät das Elternhaus verlassen. Ich war sowas von nicht-angesagt. Und nein, ich liess mich nie von LSD oder Mescalin inspirieren. Aber die meisten Kunstwerke, die so entstanden, sind eh tot-langweilig.“


DER FAULSTE MANN DER WELT


Franziska wirft einen ängstlichen Blick auf die halbfertigen Bilder auf ihrem Arbeitstisch. Ich fürchte, zu viel ihrer Zeit in Anspruch zu nehmen. Nein sagt sie, einer der Nachteile ihrer Arbeit sei die Isolation: „Man beschäftigt sich so sehr mit den Bildern, dass die sozialen Instinkte verkümmern. Es bilden sich seltsame Gewohnheiten und komische Wachzeiten.“


Ich deutet Franziska an, dass es vielleicht unfair sei, sie an ihre dunkle Vergangenheit zu erinnern. Sie erwähnte, dass sie in ihrer Kindheit kein Kino in der Nähe hatte. Geht sie jetzt gerne ins Kino? Hat sie Lieblingsschauspieler? Sie sagte Lilya 4-ever von Lukas Moodysson sei der beeindruckenste Film seit Jahren für sie gewesen. Leinwandhelden seien für sie Katherine Hepburn und Cary Grant, Doris Day and John Wayne das Gegenteil. Hat sie jemals an eine Kino-Karriere gedacht? Ja, vor einigen Jahren sollte ein Comic von ihr verfilmt werden, wurde aber nie veröffentlicht. Weitere Kino-Hoffnungen erfüllten sich nicht.


Neben dem Kino hat Franziska aber genug Anerkennung gewonnen. Ausser einem halben Dutzend Bestsellern wurden ihre Arbeiten in Museen und der renommierten Galerie Jöllenbeck gezeigt; sie gewann den Max und Moritz-Preis als bester deutschsprachiger Comic-Künstler und sie erscheint in Bettina Flitners Bildband über Prominente europäische Frauen (L’Europe au féminin, Paris: Éditions de la Martinière; Frauen mit Visionen, Munich: Knesebeck Verlag, 2004). Franziska erzählte mir, dass sie auf diese Auszeichnungen stolz sei, sich darauf aber nicht ausruhen wolle. Gerade arbeitet sie an einem Kinderbuch, das bald erscheinen soll.


Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass ich mich langsam zurückziehen sollte. Ausserdem will Franziska heute in ihr Zweit-Domizil etwa eine Stunde von Köln entfernt, fahren. Dort hat sie ein altes Fachwerkhäuschen in einem entlegenen Dorf. Da kann sie sich entspannen und ausbreiten. Ich frage mich in Gedanken (beinahe laut), wieviel mehr man sich noch ausbreiten könnte. Sie lädt mich herzlich ein, sie zu begleiten, aber ich muss ablehnen.


Nur noch ein paar Fragen, bevor ich abreise: Sie haben einen amerikanischen Freund. Wie ist er und was beeindruckt Sie an Amerika am meisten? „Er ist der faulste Mensch, den ich kenne, und ist wahrscheinlich gut für mein Seelenheil. Amerikaner sind freundlich, höflich und haben echte joie de vivre. In Deutschland ist Zufriedenheit immer suspekt. Und, in den USA scheinen die Menschen die Fähigkeit zu echter Entspannung zu besitzen. Das gibt es hier nicht. Aber Amerikaner sind politisch naiv. Euer Präsident ist ein Ignorant, ein gefährlicher dazu! Die Menschen sind zu isoliert in eurem Land. Jeder fährt überall mit dem Auto hin. Ich bin einmal in der Innenstadt einer kleinen Stadt spazieren gegangen, als mich ein Polizist anhielt und mich fragte, ob ich eine Autopanne hätte. Amerikaner sind festgefahren. Das Leben ist zu einfach, sie bräuchten etwas Unbequemlichkeit, um zu merken, dass sie am Leben sind. Und es gibt dort den Fetisch der Privatheit … oh vielleicht könnten Sie mir eine Frage beantworten? Fast jeder in Amerika scheint einen riesigen Garten und Vorgarten zu besitzen, aber ich sehe nie jemanden draussen sitzen. Wieso?“


TITUS BILLINGS schreibt die syndicated Kolumne Arts Abroad. Er ist Kultur- und Unterhaltungs-Redakteur des St. Louis, MO Intelligencer und lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in St. Louis. Dieses Interview erschien erstmals am 12. Juli 2004.

Übersetzung aus dem Englischen: Felix Schwenzel.